Wissenschaft

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Schwankungen der Gletscherlänge 

ABBILDUNG ERSTELLT VON J. OERLEMANS

Zahlreiche Aufzeichnungen zur Gletscherlänge zeigen, dass sich die Gletscher auf allen Kontinenten zurückziehen (Abbildung 1, basierend auf Leclerq et al., 2014). Forscher haben die Gletscherlänge anhand von alten Zeichnungen und Gemälden, Moränen, historischen Karten und, ab etwa 1900, geodätischen Messungen rekonstruiert. In den letzten Jahrzehnten haben sich Satellitenbeobachtungen als sehr hilfreich für die Aktualisierung der Aufzeichnungen erwiesen. Gletscher unterscheiden sich in ihren Eigenschaften: viele befinden sich in feuchten Klimazonen, andere überleben in kalten und trockenen Bedingungen. Ein großer Prozentsatz der Gletscher in höheren Breitengraden sind kalbende Gletscher, die Eisberge in einen See oder einen Fjord befördern. Es ist daher nicht überraschend, dass die Reaktion eines Gletschers auf den Klimawandel von Gletscher zu Gletscher unterschiedlich ausfällt. Dennoch zeigen die Gletscherlängenaufzeichnungen in Abbildung 1 eine große Kohärenz über den Globus hinweg: Mitte des 19. Jahrhunderts begannen viele Gletscher sich zurückzuziehen und tun dies bis heute. Die dargestellte Stichprobe enthält grosse Gezeitengletscher (z.B. Hansbreen, Portage Glacier), typische Talgletscher der mittleren Breiten (z.B. Rhonegletscher, Hintereisferner, Gangotri Glacier) und tropische Gletscher (Meren Glacier – verschwunden; Lewis Glacier). In einigen Fällen wurden kurze Perioden des Vorstoßes beobachtet (insbesondere Franz-Josef-Gletscher; Leirafjardarjökull, Schwall), doch handelt es sich dabei um geringfügige Schwankungen, die einen klaren langfristigen Trend überlagern.
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Gletscherrückgang beschleunigt, und der Volumenverlust des Eises findet jetzt in einem noch nie dagewesenen Tempo statt (Zemp et al. 2015). Es besteht wenig Zweifel, dass der Anstieg der atmosphärischen Temperatur die Hauptursache für den beobachteten Gletscherrückgang ist (Leclerc et al., 2012; Roe, 2011). Wie in vielen Studien festgestellt wurde (z. B. Oerlemans et al., 1998; Mernild et al., 2013), sind die meisten Gletscher stark aus dem Gleichgewicht mit dem gegenwärtigen Klima geraten und werden sich daher in den kommenden Jahrzehnten weiter zurückziehen, selbst wenn sich die globale Erwärmung verlangsamen würde.

Quellenverzeichnis:

Leclercq PW and Oerlemans J (2012) Global and hemispheric temperature reconstruction from glacier length fluctuations. Clim. Dyn., 38, 1065-1079 (doi: 10.1007/ s00382-011-1145-7)

Leclerq PW, Oerlemans J, Basagic HJ, Bushueva I, Cook AJ and Le Bris R (2014) A data set of worldwide glacier fluctuations, Cryosphere, 8, 659-672 (doi: 10.5194/tc-8-659-2014)

Mernild SH, Lipscomb WH, Bahr DB, Radić V and Zemp M (2013) Global glacier changes: a revised assessment of committed mass losses and sampling uncertainties. Cryosphere, 7(5), 1565–1577 (doi: 10.5194/tc-7-1565-2013)

Oerlemans J and 10 others (1998) Modelling the response of glaciers to climate warming, Clim. Dyn., 14(4), 267-274

Zemp M and 38 others (2015): Historically unprecedented global glacier decline in the early 21st century, J. Glaciol., 61(228), 754-761 (doi: 10.3189/2015JoG15J017)

Wie funktioniert ein Gletscher?

ABBILDUNG ERSTELLT VON W. HAEBERLI

Gletscher bilden sich, wenn erhöhtes Gelände, ein Plateau oder Berggipfel, oberhalb der so genannten Gleichgewichtslinie liegt. Die Gleichgewichtslinie (gelb in der Abbildung) trennt die Akkumulationszone, in der die Schneemenge im Winter die Schmelze im Sommer übersteigt, von der Ablationszone, in der der gesamte Winterschnee im Sommer verschwindet. Aufgrund von thermodynamischen und druckbedingten Effekten verwandelt sich der Schnee in der Akkumulationszone in Eis. Wenn der Druck hoch ist, verhält sich Eis wie ein viskoses Material und beginnt nach unten zu fließen (schwarze Linien). Bei einem Gletscher, der sich im Gleichgewicht mit dem vorherrschenden Klima befindet, ist die in der Akkumulationszone hinzugewonnene Gesamtmasse gleich der in der Ablationszone verlorenen Masse. Der Eisfluss sorgt für den notwendigen Massentransfer gletscherabwärts.

Wenn sich das Klima erwärmt, steigt die Gleichgewichtslinie an, typischerweise um 100 m pro Grad K Temperaturanstieg (z. B. Oerlemans, 2010). Es wird mehr schmelzen und ein kleinerer Teil des Niederschlags wird als Schnee fallen. Die Ablationszone dehnt sich aus und die Akkumulationszone schrumpft. Der Nettomassenhaushalt wird somit negativ. Das Massengleichgewicht kann nur wiederhergestellt werden, wenn die Ablationszone durch den Rückzug der Gletscherzunge verkleinert wird. Bei einer Abkühlung des Klimas ist das Gegenteil der Fall und der Gletscher wird sich ausdehnen. Beachten Sie, dass bei einem Gletscher mit geringer Oberflächenneigung die Auswirkungen einer steigenden Gleichgewichtslinie größer sind – ein solcher Gletscher reagiert empfindlicher auf den Klimawandel.
Die meisten Gletscher sind derzeit nicht im Gleichgewicht mit dem vorherrschenden Klima, d. h. sie sind „zu groß“ für die heutigen Temperaturen. Am Ende des Sommers lässt sich die Größe der Akkumulationsfläche durch eine visuelle Inspektion feststellen. In den letzten Jahren hatten viele kleinere Gletscher in den Alpen aufgrund einer sehr hohen Gleichgewichtslinie keine Akkumulationszonen mehr. Je nach Grösse werden diese Gletscher innerhalb weniger Jahrzehnte verschwinden (z.B. Zekollari et al., 2019).

Quellenverzeichnis:

Oerlemans J (2010): The Microclimate of Valley Glaciers. Igitur, Utrecht University, 138 pp. ISBN 987-90-393-5303-5

Zekollari H, Huss M and Farinotti D (2019) Modelling the future evolution of glaciers in the European Alps under the EURO-CORDEX RCM ensemble, Cryosphere, 13, 1125–1146 (doi.org/10.5194/tc-13-1125-2019)

Weltweite Temperaturveränderung

ABBILDUNG ERSTELLT VON NOAA (climate.gov)

In den letzten 100 Jahren ist die globale mittlere Oberflächentemperatur um etwa 1 °C gestiegen. Dieser Erwärmungstrend folgte auf die so genannte Kleine Eiszeit (~1600 bis ~1850), eine kühlere Periode, die sich über einen großen Teil des Globus erstreckte und in den mittleren und hohen Breiten der nördlichen Hemisphäre am stärksten war. Während der Kleinen Eiszeit erreichten die Gletscher in vielen Teilen der Welt ihren Höchststand, und die Ausdehnung des Meereises in den arktischen Meeren war deutlich größer als heute.
Die wichtigsten Faktoren, die Temperaturschwankungen auf einer Zeitskala von zehn bis hundert Jahren verursachen, sind: (i) Schwankungen der Sonnenaktivität, (ii) Aerosolbelastung der höheren Atmosphäre durch explosive Vulkanausbrüche, (iii) langfristige Verschiebungen der Ozeanzirkulation und des damit verbundenen Wärmetransports und nicht zuletzt (iv) Veränderungen der Zusammensetzung der Atmosphäre (vor allem CO2) durch menschliche Aktivitäten. Die Forscher haben Klimamodellsimulationen verwendet, um die verschiedenen Faktoren zu entflechten (z. B. Lehner et al., 2013).
Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass ein wesentlicher Teil der Erwärmung in den letzten 50 Jahren eine direkte Folge der anthropogenen Treibhausgasemissionen ist (IPCC, 2013). Die deutliche Erwärmung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist möglicherweise teilweise auf eine geringere Anzahl von Vulkanausbrüchen in diesem Zeitraum zurückzuführen.
Die Erwärmung ist nicht gleichmäßig über den gesamten Globus verteilt. Das stärkste Signal wird in den hohen Breiten der nördlichen Hemisphäre beobachtet (die „polare Verstärkung“), was wahrscheinlich mit kryosphärischen Rückkopplungen (Meereis, Schneebedeckung) auf die Oberflächenenergiebilanz zusammenhängt. Auch die regionalen Unterschiede können groß sein. Der Temperaturanstieg in Mitteleuropa zum Beispiel ist mehr als doppelt so hoch wie der globale Mittelwert. Solche Unterschiede hängen oft mit Verschiebungen in den großen Wettersystemen wie den quasi permanenten subtropischen Hochdruckzellen (z. B. dem Azorenhoch) zusammen.

Quellenverzeichnis:

IPCC (2013) Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Stocker TF, and 9 others (eds)]. Cambridge University Press, 1535 pp, (doi:10.1017/ CBO9781107415324)

Lehner F, Born A, Raible CC and Stocker TF (2013): Amplified inception of European Little Ice Age by sea ice-ocean-atmosphere feedbacks. J. Climate26, 7568-7602

Klimawandel in der Schweiz

ABBILDUNG ERSTELLT VON W. HAEBERL

MeteoSchweiz hat die Daten der Schweizer Wetterstationen sehr detailliert ausgewertet und die Reihen homogenisiert (Begert und Frei, 2018). Für mehrere Standorte sind Niederschlags- und Temperaturdaten seit 1864 verfügbar. Auch Karten und Grafiken sind auf der Website von MeteoSchweiz zu finden. Hier besprechen wir zwei Datensätze, die für das Verhalten der Gletscher am relevantesten sind: Sommertemperatur und Winterniederschlag, gemittelt über die Schweiz, bezogen auf das Mittel der Periode 1961-1990. Die schwarzen Linien in den Diagrammen zeigen das Ergebnis der Tiefpassfilterung (20 Jahre).
Die Sommertemperaturen stiegen bis etwa 1980 nur geringfügig an, dann setzte ein deutlicher Erwärmungstrend von etwa 2 °C in 40 Jahren ein. Die relativ kühlen Bedingungen im Zeitraum 1960-1980 führten zum Vorstoß einiger kleinerer und mittelgroßer Gletscher. Die Temperaturaufzeichnungen für die anderen Jahreszeiten zeigen ein recht ähnliches Verhalten.
Bei den Niederschlägen ergibt sich ein anderes Bild. Nur im Winter wurde ein deutlicher Trend zu mehr Niederschlag beobachtet. Der Zeitraum 1864-1900 war offenbar recht trocken, was den Gletscherrückgang in den Alpen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilweise erklären könnte. Die Niederschlagsveränderungen weisen jedoch größere regionale Unterschiede auf als die Temperaturveränderungen, was die Analyse der langfristigen Veränderungen unsicherer macht.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Klimaerwärmung fortsetzen wird. Für das RCP2.6-Szenario wird für die Schweiz im Jahr 2060 ein Anstieg der Sommertemperatur von 0,9 bis 2,5 °C erwartet (im Vergleich zum Zeitraum 1981-2010). Für das RCP8.5-Szenario sind es 2,3 bis 4,4 °C. Gleichzeitig könnten die Winterniederschläge zunehmen (-1 bis 16 % für RCP2.6; -3 bis 21 % für RCP8.5). Allerdings könnte ein größerer Teil des Winterniederschlags als Regen fallen.

Quellenverzeichnis:

Begert M and Frei C (2018): Long-term area-mean temperature series for Switzerland—Combining homogenized station data and high resolution grid data. Int. J. Climatol.38, 2792-2897, https://doi.org/10.1002/joc.5460

Rückzug der Gletscher in den Alpen

ABBILDUNG ERSTELLT VON J. OERLEMANS

Es ist unwahrscheinlich, dass die Klimaerwärmung in naher Zukunft zum Stillstand kommt, so dass sich der Gletscherrückgang fortsetzen wird. Die großen Gletscher werden sich weiter aus den Tälern zurückziehen, und die meisten kleineren Gletscher werden verschwinden (wenn sie es nicht schon getan haben). Bis zum Jahr 2100 werden Gletscher wahrscheinlich nur noch auf den höchsten Gipfeln der Alpen (> ~3500 m) existieren. Für die kleineren Gletscher (Huss und Fischer, 2016) sowie für einige Talgletscher (z. B. Oerlemans und Keller, 2021) wurden Projektionen der künftigen Gletscherentwicklung auf der Grundlage von Computermodellen erstellt. Die Unsicherheiten in den Projektionen sind jedoch groß. Vieles hängt von der Zuverlässigkeit der klimatologischen Szenarien ab. Da komplexe Modelle verwendet werden, die „fast alle“ physikalischen Prozesse behandeln, neigen wir dazu, die Zuverlässigkeit der Modellergebnisse zu überschätzen. Das Klimasystem weist eine interne Variabilität in der Größenordnung von Jahrzehnten auf, die schwer zu erfassen ist. So ist zum Beispiel schwer zu beurteilen, ob die „mitteleuropäische Verstärkung“, die zum Teil mit einer Verlagerung des Azorenhochs zusammenhängt, in Zukunft ein konstanter Faktor sein wird oder sich abschwächt. Klimasimulationen mit verschiedenen Modellen (ab 1865) haben gezeigt, dass die meisten Modelle hinsichtlich des globalen Signals und der polaren Verstärkung übereinstimmen, nicht aber hinsichtlich der (sub)kontinentalen Schwankungen.
Trotz dieser Unsicherheiten besteht kein Zweifel daran, dass der Gletscherschwund in den Alpen und rund um den Globus anhalten und sich in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich noch verstärken wird.
Durch den Rückzug der Gletscher und den Abbau des Permafrosts entstehen neue Landschaften, vor allem Seen und instabile Hänge. Dies birgt Risiken und Herausforderungen, und tatsächlich entsteht hier ein neues Forschungsfeld (Haeberli et al., 2019).

Quellenverzeichnis:

Haeberli W, Oerlemans J and Zemp M (2019): The future of alpine glaciers and beyond. Oxford Research Encyclopedia of Climate Science, 36 pp, DOI: 10.1093/acrefore/ 9780190228620.013.769.

Huss M and Fischer M (2016): Sensitivity of very small glaciers in the Swiss Alps to future climate change. Front. Earth Sci., 49 (34). doi: 10.3389/feart.2016.00034

Oerlemans J and Keller F (2021): Modelling the Vadret da Tschierva, Switzerland: calibration with the historical length record and future response to climate change. J. Glaciology67 (261), 1-10, https:// doi.org/10.1017/jog.2021.82.

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